Seminarbericht

Medizinseminar in Lübeck 2010

»Wer, wie, was. Wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm«, so heißt es in der Sesamstraße schon seit vielen Jahren. Und dort geht es ja auch um Wissensvermittlung, ebenso wie bei dem Seminar »Medizin für Sprachmittler: Stütz- und Bewegungsapparat/Entzündungsmedizin« in der Hansestadt Lübeck am 24. und 25. April 2010.

“46 Frauen und 1 Mann, die als Übersetzer und Dolmetscher in zehn Arbeitssprachen (inkl. Gebärdensprache) arbeiten…”

Wer war eigentlich dabei? 46 Frauen und 1 Mann, die als Übersetzer und Dolmetscher in zehn Arbeitssprachen (inkl. Gebärdensprache) arbeiten, hatten sich aus ganz Deutschland, Dänemark, Schottland und den USA auf den Weg ins frühlingshafte Lübeck gemacht.

Wie war die Veranstaltung organisiert? Die beiden Organisatorinnen Helke Heino und Sybille Frey leisteten wieder tolle Arbeit. Das Hörsaalzentrum der Universität zu Lübeck bot mit einem modern ausgestatteten Seminarraum und einer lichtdurchfluteten Galerie für die Pausen einen idealen Veranstaltungsort. Alles lief reibungslos, die Vorträge waren lehrreich und hörenswert und auch das Catering ließ keine Wünsche offen.

Was wurde geboten? An beiden Tagen gab es jeweils vier Vorträge von je 90 Minuten Länge, die sich mit Kaffeepausen und einer Mittagspause zum Kräfte tanken und zur Versorgung des leiblichen Wohls abwechselten. Natürlich wurden die Pausen von den Teilnehmern genutzt, um sich mit bekannten und noch nicht bekannten Kollegen zu unterhalten und auszutauschen.

Die Themen wurden an beiden Tagen jeweils mit theoretischen Vorträgen eingeleitet, denen zunehmend praxisorientierte Vorträge folgten, die die praktische Bedeutung und Umsetzung des gerade erworbenen oder vertieften Grundwissens deutlich machten.

Und wie schon im Vorjahr trafen sich die meisten Teilnehmerinnen am Samstagabend nach getaner Arbeit zu einem urigen Abendessen im »Kartoffelkeller« im Herzen Lübecks.

Wieso, weshalb, warum wollten so viele Sprachmittler an dieser Veranstaltung teilnehmen?

Hier endet die einfache und schnelle Beantwortung der berühmten »W«-Fragen. Das diesjährige Medizinseminar war schon die zweite Veranstaltung dieser Art in Lübeck. Inspiriert wurde diese Mini-Serie von vier Anatomie-Seminaren des BDÜ Baden-Württemberg in den Jahre 2007 und 2008 in Stuttgart und Heidelberg.

Alle diese Veranstaltungen haben gezeigt, dass es bei Dolmetschern und Übersetzern einen beträchtlichen Bedarf an fachspezifischen Fortbildungsmöglichkeiten im Bereich Medizin gab, gibt und weiterhin geben wird. Zielgruppe der Seminare sind Sprachmittler, die bereits im Bereich Medizin arbeiten und ihre bestehenden Kenntnisse auffrischen oder ein Teilgebiet vertiefen möchten. Einige der Teilnehmerinnen an der diesjährigen Veranstaltung hatten alle fünf vorausgegangenen Seminare besucht.

Einen großen Teil der Attraktivität dieser Seminare machen die Dozenten aus, die aus der medizinischen Lehre und Praxis kommen. Zu hören und zu lesen, wie sich ein leibhaftiger Mediziner ausdrückt und welche Fachtermini er wirklich benutzt, ist für viele Sprachmittler bei der täglichen Arbeit von Nutzen. Hat man schon einmal so einen Fachvortrag zu einem Spezialthema gehört, fällt einem die nächste Übersetzung in diesem Spezialgebiet sehr viel leichter. Man versteht die Zusammenhänge im Originaltext besser und kann sie in der Zielsprache adäquater wiedergeben.

Dies ist auch einer der Hauptgründe, warum ich mich wieder auf den Weg über den großen Teich zu diesem Medizinseminar nach Lübeck gemacht habe. Natürlich kann man sich Fachwissen aus Büchern anlesen, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich mir gerade komplexe Themen besser durch Vorträge erschließen, insbesondere, wenn ich noch Fachbücher zum Nacharbeiten habe.

“Sämtliche Vorträge des Seminars waren sehr interessant, lehrreich und spannend.”

Apropos Bücher – wie auch schon im Vorjahr gab es viele nützliche Literaturhinweise und eine erkleckliche Buchauswahl vor Ort zum Reinlesen. Außerdem wurden zu jedem Vortrag Listen mit Begriffserklärungen sowie Handouts mit den Texten der Präsentationen verteilt. Von der Möglichkeit, Fragen an die Referenten zu stellen, wurde rege Gebrauch gemacht. Die Referenten freuten sich offensichtlich über die aufmerksame Zuhörerschaft und das große Interesse an ihren Fachthemen.

Fazit

Sämtliche Vorträge des Seminars waren sehr interessant, lehrreich und spannend. Man merkte den Vortragenden an, dass sie über ihre Fachdisziplin sprachen, der sie mit Herz und Seele verbunden sind. Dank der praktischen Erfahrungen der Referenten blieb keine Frage unbeantwortet und auch ganz persönliche Sorgen der Teilnehmer konnten in Einzelgesprächen berücksichtigt werden.

Theorie: Anatomie

Woman examines model of a scapula
Anatomie ganz anschaulich: Scapula zum Anfassen

Am Samstagmorgen startete Dr. Matthias Klinger vom Institut für Anatomie an der Universität zu Lübeck das Programm. In seinen Anatomie-Vorträgen »Knochen und Gelenke« sowie »Muskeln und Hilfsstrukturen« ging es unter anderem um die Klassifizierung von Knochen und deren Strukturen. In diesem Zusammenhang erklärte Dr. Klinger, dass unsere Knochen einem ständigen Wandel unterzogen sind und dass sich im Laufe von 10 Jahren unser ganzes Knochengerüst einmal erneuert, wobei kontinuierlich Knochenmasse ab- und aufgebaut wird.

Zur Verdeutlichung hatte er zahlreiche Exponate mitgebracht, die während seiner Vorträge durch die Reihen der faszinierten Zuhörer wanderten.

Einen echten Oberschenkelknochen (Femur) oder ein Schulterblatt (Scapula) mit Sehnen und Bändern anzufassen und den genauen Aufbau, aber auch die Spuren des Verschleißes erkennen zu können, ließen die theoretischen Ausführungen sehr lebendig werden. Kommt man nach so einer Lernerfahrung als Sprachmittler in seinem Arbeitsalltag mit einem Text zu diesem Thema in Berührung, kann man sich das Gemeinte viel leichter vorstellen.

Praxis: Orthopädie und Physiotherapie

Wie die am Vormittag vorgestellten Begrifflichkeiten in der Praxis verwendet werden, demonstrierte uns Claudia Hartz, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, dann sehr anschaulich in ihrem Vortrag über das Schultergelenk.

Sybille Frey is assessed by Kerstin Haupt
Sybille Frey lässt sich von Kerstin Haupt analysieren

Sie zeigte uns, dass das Schultergelenk eigentlich suboptimal aufgebaut ist, da der Caput humeri (Kopf des Oberarmknochens) und das Glenoid (die Kontaktfläche am Schulterblatt) in einem krassen Missverhältnis in Bezug auf ihre Größe (nämlich 3:1) stehen und außerdem das Glenoid recht flach ist und daher Knorpel, Muskeln und Bänder erforderlich sind, um es am runden Humeruskopf zu halten. Andererseits sorgt dieser Aufbau für die enorme Beweglichkeit des Gelenks und somit des Arms. Angesprochen wurden in diesem Vortrag auch Untersuchungsmethoden wie der Neutral-Null-Test, um bei Beschwerden eine Diagnose treffen zu können.

Wie schon bei einem der Anatomie-Seminare in Heidelberg (siehe Seminarbericht im Infoblatt 5/2007) war ich überrascht und beeindruckt, wie viel ein Arzt aus dem bloßen Erscheinungsbild eines Patienten auf dessen Gesundheitszustand rückschließen kann. Frau Hartz veranschaulichte an der Humeruskopffraktur (Bruch des Kopfes des Oberarmknochens) und der Schulterluxation (»ausgekugelt«) wie die entsprechenden Diagnosen mit klassischen und bildgebenden Verfahren gestellt werden und welche Behandlungsmethoden zur Verfügung stehen. Deutlich betont wurde die Bedeutung der Krankengymnastik für die Behandlung von Verletzungen des Schultergelenks, was eine sehr schöne Überleitung zum anschließenden Thema »Physiotherapie« bot.

Die Physiotherapeutin Kerstin Haupt, Leiterin der Fachschule für Physiotherapie der Bremer Heimstiftung, begann ihren Vortrag mit einem praktischen Beispiel für Behandlungsmöglichkeiten bei Schulterverletzungen und zeigte uns eine Übung zur Stärkung der Rotatorenmanschette, die wir alle gleich ausprobieren konnten.

Der Vortrag blieb sehr praxisorientiert, und Frau Haupt demonstrierte uns auf der Galerie am lebenden Objekt, wie ein Physiotherapeut viele Probleme seines Patienten schon von dessen Körper selbst ablesen kann. Als sie erwähnte, dass die Füße im lockeren Stand eigentlich 11 Grad nach außen gedreht sein sollten, wurde den meisten von uns nach einem Blick nach unten klar, dass der menschliche Körper nicht immer den Idealvorgaben entspricht.

Theorie: Immunsystem und Entzündungsprozesse

Der Sonntag begann wieder mit Theorievorträgen zum Thema des Tages: »Autoimmunerkrankungen und Entzündungsforschung «. Dr. Klinger stellte uns die allgemeinen Begrifflichkeiten und Zusammenhänge der unspezifischen und spezifischen Abwehr, die besondere Bedeutung der B- und T-Zellen, die Funktion von Antigenen und Antikörpern sowie die primären und sekundären lymphatischen Organe vor.

Dieser Schnelldurchgang durch die Immunologie bildete die Grundlage für den folgenden Vortrag von Prof. Dr. Manfred Kunz, Leiter des Zentrums für Entzündungsmedizin (Comprehensive Center for Inflammation Medicine, CCIM) in Lübeck über »Zelluläre Interaktionen bei Entzündungsprozessen und Autoimmunerkrankungen«.

Neueste Forschungsergebnisse zeigen, dass Autoimmunerkrankungen aus Sicht der Genetik sehr viel näher verwandt sind, als bisher angenommen wurde und dass dem Interleukin 23 und den T-Helferzellen 17 dabei eine Schlüsselrolle zukommt. Dies ist insbesondere für die pharmazeutische Forschung und letztendlich für die Behandlung der Betroffenen von großer Bedeutung.

Um auch den Patienten helfen zu können, die auf die konventionellen Behandlungsmethoden bei Autoimmunkrankheiten (wie Rheumatoide Arthritis, Morbus Crohn, Psoriasis etc.) nicht ansprechen, gibt es seit etwa zehn Jahren eine neue Art von Präparaten, die sogenannten Biologika. Hierbei wird Patienten ein TNFalpha-Blocker verabreicht, damit die entzündungsfördernden Zytokine an den künstlichen Rezeptor andocken und ausgeschieden werden können, anstatt an den natürlichen Rezeptoren anzudocken und damit akute Symptome von Autoimmunkrankheiten auszulösen. Das hört sich zwar sehr simpel an, ist aber höchst kompliziert und teuer. Und Kosten sind ja bekanntlich ein sehr wichtiger Faktor. Überrascht war ich von dem Aufwand, der zur Entwicklung eines Medikaments betrieben werden muss: 10 Jahre Entwicklung und 1 bis 2 Mrd. Euro Kosten.

Bei diesen Biologika betragen die durchschnittlichen Kosten pro Patient etwa 30.000 Euro pro Jahr, weswegen sie erst eingesetzt werden, wenn bei einem Patienten alle anderen, günstigeren Mittel versagen (»Ultima Ratio«). Dies führte zu Diskussionen darüber, ob die Biologika unter Berücksichtigung aller Kosten (wie Frühverrentung, Krankheitstage, Produktivitätseinschränkungen, Rehabilitationsmaßnahmen, Pflegekosten, Kosten für Prothesen etc.) im Endeffekt wirklich so viel teurer sind als die traditionellen Medikamente.

Praxis: Rheumatoide Arthritis und Morbus Crohn

Den Praxisteil am Sonntagnachmittag begann Dr. Eva Reinhold-Keller, die einer internistisch-rheumatologischen Gemeinschaftspraxis in Hamburg tätig ist. Sie gab uns in ihrem reich bebilderten Vortrag einen Überblick über Manifestationen, Diagnoseverfahren, Behandlungsmöglichkeiten und persönliche wie volkswirtschaftliche Folgen entzündlich-rheumatischer Gelenkerkrankungen.

Dabei wies sie uns auf einen Fallstrick bei der Übersetzung vom Englischen ins Deutsche hin: »-itis« ist üblicherweise die Wortendung, mit der in beiden Sprachen entzündliche Prozesse bezeichnet werden (»Arthritis«); »-ose« bzw. »-osis« ist die Endung für degenerative Gelenkerkrankungen (»Arthrose« bzw. »arthrosis«). Im anglo-amerikanischen Sprachgebraucht gibt es eine Besonderheit: »osteoarthritis« ist die Bezeichnung für Gelenkverschleiß, nicht für eine Gelenkentzündung. Hier muss man bei Übersetzungen sehr auf den Kontext achten, um die korrekten Zusammenhänge zu erkennen.

Als zweites Praxisbeispiel zeigte uns Dr. Klaus J. Schmidt, Oberarzt für Gastroenterologie am UKSH Lübeck, in seinem Vortrag über »Chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED)« Einzelheiten zu zwei typischen Autoimmunerkrankungen, deren Vorkommen (Inzidenz) aus unbekannten Gründen seit dem zweiten Weltkrieg stark ansteigt: Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa.

Dr. Schulz vermittelte uns erst die anatomischen Grundlagen des menschlichen Darms, der bei einem Erwachsenen etwa acht Meter lang ist, aus diversen Teilen besteht (von oben nach unten: Duodenum, Jejunum, Ileum, Zäkum, Colon ascendens, Colon transversum, Colon descendens, Colon sigmoideum, Rektum, After) und einen recht komplexen Wandaufbau aufweist ( Mukosa, Submukosa, Muskularis, Serosa). Je nach Art, Ausmaß und Stadium der Erkrankung sind unterschiedliche Teile mehr oder weniger stark betroffen – ein recht heterogenes Feld für Arzt und Patient, das eine große Bandbreite an klinischen Beschwerden und Wirksamkeit von Therapien aufweist.

Damit wir bei der Schilderung der diversen Symptome innerhalb und außerhalb des Darms nicht völlig in Verzweiflung ob der Leiden der Betroffenen gerieten, hatte Dr. Schulz immer wieder mal eine aufmunternde Anekdote parat. Sein lebhafter Vortrag war ein sehr gelungener Abschluss für dieses zweitägige Seminar auf hohem fachlichen Niveau.

Fazit

Sämtliche Vorträge des Seminars waren sehr interessant, lehrreich und spannend. Man merkte den Vortragenden an, dass sie über ihre Fachdisziplin sprachen, der sie mit Herz und Seele verbunden sind. Dank der praktischen Erfahrungen der Referenten blieb keine Frage unbeantwortet und auch ganz persönliche Sorgen der Teilnehmer konnten in Einzelgesprächen berücksichtigt werden.

Ungewisse Zukunft

Im nächsten Jahr veranstaltet der ADÜ Nord im Mai 2011 eine Konferenz in Hamburg, die 4. ADÜ-Nord-Tage, sodass keine Zeit für die Organisation eines speziellen Medizin-Seminars bleibt. Und außerdem kämpft die Universität zu Lübeck gegenwärtig gegen Pläne der schleswig-holsteinischen Landesregierung, den Studiengang Medizin am Standort Lübeck aufzugeben (siehe www.luebeck-kaempft.de):

Da aber der Wunsch nach weiteren Seminaren dieser Art von allen Seiten an die Organisatorinnen herangetragen wurde, bleibt zu hoffen, dass es nach 2011 wieder weitergeht.

Dass das Interesse an diesen Veranstaltungen groß ist, zeigt die stetig hohe Teilnehmerzahl. Und auch ein Rücklauf von 95 % der Fragebögen zur Seminarqualität, die die Teilnehmer im Anschluss an das Seminar ausfüllten, spricht für sich!’

Seminarbericht von der Teilnehmerin mit der weitesten Anreise: Jacqueline Jugenheimer,Übersetzerin aus Madison, Wisconsin (USA).  Nachdruck mit freundlicher Genehmigung seitens der Autorin und ADÜ Nord, Deutschland, denen wir herzlich für diesen Beitrag danken.

Visit ADÜ Nord online at www.adue-nord.de

[An exerpt of this report was published in the Winter 2010/2011 edition of interaktiv, which you can find here.]